B. Vulgärlatein

1. Wesen des Vulgärlateins

Die Sprache, die sich - wie dargestellt - allmählich durch das ganze Imperium ausbreitete, war nicht das klassische Latein Ciceros. Es war das Latein, wie es vom gewöhnlichen Volk ausgesprochen wurde.

Wichtig:
Der Begriff Vulgär- hat im sprachwissenschaftlichen Bereich nicht den negativen Beigeschmack wie in der heutigen Umgangssprache (= ordinär, unanständig), sondern bezeichnet - völlig wertneutral - die allgemeine Alltagssprache (von lat. vulgus = Volk).
Also auch die übliche Sprache der mittleren und gehobenen Schichten und nicht nur den Jargon der untersten Schichten!
Auch Cicero und Seneca haben "privat" sicherlich Vulgärlatein gesprochen!

Es war die “Sprache des Volkes”, also die gesprochene Sprache, ohne daß damit eine Stigmatisierung, wie sie dem Wörtchen vulgär innewohnt, verbunden ist!

Der Gesichtspunkt, daß es in jeder Sprache große Unterschiede zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache gibt, ist von überragender Bedeutung für das Verständnis von Sprachentwicklung, Sprachwandel, usw. überhaupt.

So sind das geschriebene und das gesprochene Englisch im Grunde 2 verschiedene Sprachen. Das Gleiche gilt für das geschriebene und das gesprochene Französisch.

2. Sprachen leben

Man muß sich einfach klarmachen, daß eine Sprache kein feststehendes statisches Gebilde ist, sondern eine Vielzahl nebeneinander stehender Erscheinungsformen der menschlichen Kommunikation, von denen die Hochsprache (also z.B. das Englische oder Lateinische, das man in der Schule lernt) nur eine von vielen Formen ist.

Der heutige Deutschsprecher bemerkt beispielsweise,

  • daß die Sprache von Günter Grass eine andere ist als die von Friedrich Schiller,
  • daß in München oder Hamburg anders gesprochen wird als in Frankfurt oder Leipzig,
  • daß die Sprache der Bild-Zeitung nur wenig Ähnlichkeit hat mit derjenigen der FAZ,
  • daß man mit seinem Nachbarn anders redet als mit seinem Chef,
  • daß sich die Sprache eines Bauarbeiters von der eines Arztes unterscheidet, oder
  • daß man sich schriftlich anders ausdrückt als mündlich (man schreibt “gucken” und sagt “kucken”.
    Und man schreibt "haben wir ..." und sagt "hammwa ..." ).

Derartige örtliche, zeitliche, situationsbedingte und schichtenspezifische Differenzierungen gibt es in jeder Sprache. Es gab sie natürlich auch im Lateinischen, auch wenn sie vielleicht weniger ausgeprägt waren als im Deutschen oder - was wahrscheinlicher ist - für uns heute weniger faßbar.

3. Und besonders das Latein lebt

Aber auch heute noch gut zu erkennen - und für die Entwicklung der romanischen Sprachen besonders wichtig - ist der Unterschied zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Latein.

Denn es ist das gesprochene Latein, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde und das sich dabei unmerklich in die Sprachen umwandelte, die schließlich “romanisch” heißen würden.

Die Sprache, die zur Zeit Caesars in Rom gesprochen wurde, hat man bis heute rund 70 mal an die nächste Generation weitergegeben.
Jede Generation glaubte natürlich, die Sprache der Eltern zu übernehmen. Und doch bezeichnen wir die Sprache der 1. Generation als Lateinisch und die der 70. Generation als Italienisch !

Ähnlich ist es in den anderen romanischen Ländern. Französisch ist nichts anderes als das Lateinische von Alesia, wo Caesar Vercingetorix besiegte, im Jahre 2000.

Und Spanisch ist nichts anderes als das Lateinische im Jahre 2019.

Und doch heißen alle diese Sprachen heute anders. Und verschleiern dadurch die geschilderte Kontinuität.

Lediglich im Fall des Griechischen tritt diese Kontinuität auch von der Bezeichnung her deutlich hervor. Denn obwohl sich das Neugriechische vom Altgriechischen ähnlich stark unterscheidet wie das Französische vom Lateinischen, werden dort beide Varietäten der Sprache als Griechisch bezeichnet.

Die lateinische Sprache hat sich immer und ständig weiterentwickelt. So wie jede andere Sprache - damals wie heute - auch!

4. Rasante Entwicklung ab der literarischen Zeit

Diese Entwicklung hat sich in der literarischen Zeit (ab etwa 300 v. Chr., vor allem aber ab etwa 100 v. Chr.) rapide beschleunigt. In dieser Epoche entfernte sich das gesprochene vom geschriebenen Latein.

Zwischen der Hochsprache, also dem geschriebenen Latein, wie wir es aus der antiken Literatur kennen, und dem gesprochenen Latein, wie wir es rekonstruieren können (dazu Näheres unten), bildete sich nach und nach eine tiefe Kluft:

In der Frühzeit des Lateinischen standen gesprochene und geschriebene Sprache relativ nahe beieinander, wirkten aufeinander ein und entwickelten sich stetig fort, wie es normal und üblich ist.

Ab dem 1. vorchristlichen Jahrhundert (der Epoche der sog. goldenen Latinität in der römischen Literatur) stagnierte jedoch die Entwicklung der geschriebenen Sprache. Die von Cicero und Caesar, von Vergil und Horaz verwendete Sprache erlangte nun Vorbildcharakter und veränderte sich kaum noch.

Das gesprochene Latein (auch Sprechlatein, Volkslatein oder - nach dem lat. Wort für Volk (vulgus) - Vulgärlatein genannt) war von dieser Entwicklung nicht betroffen. Es entwickelte sich - ungehindert von literarischen Konventionen - stetig weiter.

Der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache vergrößerte sich immer mehr, bis sich schließlich das Vulgärlateinische in die romanischen Sprachen differenziert hatte, während das geschriebene Latein, in dem die römische Literatur - und mit ihr die gesamte römische Kultur - ihre höchste Blüte erlebte, als klassisch festgeschrieben und bis in die Neuzeit weitergegeben wurde.

 

Wegen der überragenden Bedeutung der Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (in sämtlichen Kulturkreisen, vgl. z.B. nur das heutige Englisch!) soll das Thema noch aus einem anderen Blickwinkel dargestellt bzw. vertieft werden.

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