Alter der Sprachen

Zeitliche Datierung

Wann genau fand die Ausbreitung der Indoeuropäer (und damit ihrer Sprache) eigentlich statt? Und wann erfolgte die Aufspaltung dieses Volkes in einzelne Stämme, die die Entwicklung der einzelnen Dialekte zu eigenen Sprachen zur Folge hatte (und damit die Bildung der einzelnen Unterfamilien des Indoeuropäischen)?

Seltsamerweise weiß man dies nicht genau.

Wir können zwar relativ genau angeben, in welcher zeitlichen Reihenfolge sich die einzelnen Unterfamilien abgespalten haben und in welcher Reihenfolge sich aus ihnen dann die einzelnen Sprachen gebildet haben. Wann genau jedoch dies geschehen ist, ist nur in Ausnahmefällen bekannt.

Mit anderen Worten: Wir wissen sehr oft (eigentlich fast immer), in welcher Reihenfolge etwas geschehen ist, aber wir wissen nicht, wann genau es passiert ist. Wir kennen also die Reihenfolge der Ereignisse, aber nicht den konkreten Zeitpunkt.

Ende des Jahres 2003 sorgte eine Meldung für großes Aufsehen – fast für eine Sensation -, daß eine zeitliche Datierung gelungen sei: Danach habe die Verbreitung der indogermanischen Sprachen im Zeitraum zwischen 5.800 und 7.800 v. Chr. in anatolischen Bauerndörfern ihren Anfang genommen.

Letzteres mag durchaus zutreffen. Es deckt sich auch mit der überwiegend vertretenen Auffassung (Näheres hier). Aber was hat es mit der zeitlichen Datierung auf sich? – Hier die näheren Einzelheiten:

Zwei Mathematiker der neuseeländischen Universität Auckland, Russell Gray und Quentin Atkinson, haben eine Methode entwickelt, mit der sie den Nachweis zu führen glauben, daß die Verbreitung der indogermanischen Sprachen im Zeitraum zwischen 5.800 und 7.800 v. Chr. begonnen habe. Auch die weitere Entwicklung hätten sie relativ genau ermitteln können.

Sie wendeten hierbei ein in der Biologie entwickelte mathematische Verfahren an, mit denen u.a. evolutionäre Stammbäume rekonstruiert werden (z. B. vom Übergang der Primaten zum Menschen) und die nicht auf biologische Anwendungsbereiche beschränkt sind. Diese Methoden werden ständig ausgeklügelter und sind immer besser in der Lage, zuverlässige Ergebnisse für ständig wachsende Datenmengen zu erzielen.

Was lag also näher, sie auf die Ausgliederungsproblematik von Sprachfamilien anzuwenden? Also auf die Frage: Welche Zweige haben sich früher von der Ursprache abgetrennt, welche später, welche bilden ihrerseits Unterzweige, welche nicht?

Hier das Ergebnis:

Die Methode:

Maßgeblich für jede mathematische, insbesondere statistische Methode – sozusagen die Grundlage jeder Rekonstruktion – ist ein zuverlässiges, möglichst repräsentatives Zahlenmaterial. Das von Gray und Atkinson verwendete Sprachmaterial stammt aus einer im Internet verfügbaren Datenbank. Diese enthält 200 Wortbedeutungen und deren Übersetzungen in 95 moderne indogermanische Sprachen.

Sie betreffen den Grundwortschatz, der von den einzelnen Kulturen unabhängig ist und praktisch in allen Sprachen der Welt vorhanden ist (also Begriffe wie „ich“, „du“, „Sonne“, „Fuß“, „Tier“, „schlecht“, „leben“). Da dieser Grundwortschatz aus elementaren Wörtern besteht, gibt es für den Sprecher keine Veranlassung, diese bei Sprachkontakten zu entlehnen. Man geht daher davon aus, daß der Grundwortschatz i.d.R. vererbt und nur sehr selten entlehnt wird.

Beispiel: Es werden ja auch derzeit alle möglichen Wörter aus dem Englischen entlehnt, aber mit Sicherheit keine aus dem Grundwortschatz. Man entlehnt Handy, aber nicht Sonne oder Fuß. Ähnlich war es in früheren Jahrhunderten mit Entlehnungen aus dem Französischen und aus anderen Sprachen.

Für jeden dieser Begriffe des Grundwortschatzes haben die Ersteller der Datenbank Übersetzungen in den 95 indogermanischen Sprachen ermittelt. Mit sprachhistorischen Mitteln haben sie etymologisch Zugehöriges zusammengestellt und etymologisch Unterschiedliches getrennt und dabei nach bestem Können Lehnwörter ausgeklammert.

Hierzu ein Beispiel: Für das Wort Hand entstehen drei verschiedene etymologische Gruppen:

(Eng.) hand 1 (Franz.) main 2 (Litauisch) rankà 3
(Deutsch) Hand 1 (Span.) mano 2 (Russ.) ruká 3
  (Ital.) mano 2  

Im Stammbaum für „Hand“, der aufgrund der Datenbank erstellt werden kann, bilden Englisch und Deutsch Zweige eines Astes (germanische Sprachen). Französisch, Spanisch und Italienisch bilden Zweige eines anderen Astes (romanische Spr.), während Litauisch und Russisch Zweige eines dritten Astes (slawische Spr.) bilden. Für jede der 200 Wortbedeutungen wird nach diesem Verfahren ein Stammbaum ermittelt.

In einem zweiten, rechnerisch aufwendigen Schritt wurden alle 200 Bäume (die zusammen den Stammbaum des Indogermanischen bilden) miteinander verglichen und ein optimaler Stammbaum ermittelt, der allen 200 Bäumen gerecht werden soll. Dies gelingt jedoch nur, wenn alle Lehnwörter und zufälligen Parallelentwicklungen richtig ermittelt sind, was in der Praxis nie der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund ist der Aufsatz von Gray und Atkinson zu bewerten. Das Neue in ihren Ergebnissen ist nicht, daß hier statistische Verfahren angewandt werden, um die Ausgliederung des Indogermanischen zu datieren, was ein durchaus sinnvolles Unterfangen ist. Statistische Methoden sind in der Linguistik sozusagen ein alter Hut (einige Beispiele).

Kritisiert wurde vielmehr die Annahme der beiden Wissenschaftler, daß für die verschiedenen Stufen der Ausgliederung eine absolute Chronologie bestimmt werden könne.

  • So sei die Trennung zwischen der germanischen Unterfamilie und dem Latein um 3.500 v. Chr. anzusetzen, was mit Sicherheit zu früh ist.
  • Die Trennung zwischen Baltisch und Slawisch wäre um 1.400 v. Chr. erfolgt.
  • Die Abspaltung des Hethitischen wäre etwa 6.800 v. Chr. und die des Tocharischen etwa 5.300 v. Chr. erfolgt.

    Die Abspaltung des Hethitischen stellt die erste Stufe der Auflösung der urindogermanischen Spracheinheit dar. Da die Daten mit einer Unsicherheit von etwa 1.000 Jahren behaftet sind, ist das Zeitfenster, das für das Ende der urindogermanischen Spracheinheit angesetzt werden kann, zwischen etwa 7.800 und 5.800 v. Chr. anzusetzen, d.h. ab dann hätte sich das Urindoeuropäische auseinander entwickelt.

    Diese These ist jedoch stark umstritten. Sie kommt zu Ergebnissen, die viel zu hoch (also zu alt) sind und die sich mit den Ergebnissen anderer Wissenschaftsgebiete, auch der Sprachwissenschaft und der Archäologie, nicht in Übereinstimmung bringen lassen.

    Wie eingangs dargelegt, ist es zwar möglich, mit den Methoden der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft eine relative Chronologie aufzustellen, nach der bestimmt werden kann, ob im Laufe der Zeit eine Änderung vor oder nach anderen Änderungen stattgefunden haben muß. Es ist dagegen unmöglich, mit sprachwissenschaftlichen Mitteln eine absolute Chronologie zu bestimmen.

    Es wurde in der Vergangenheit bereits mehrmals versucht, absolute Chronologien zu erstellen. Dabei ging nab von der Voraussetzung aus, daß sich Sprachänderungen im Laufe der Zeit mit einer bestimmten Frequenz ereignen und sich sozusagen nach einer Uhr richten. Innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts wäre somit mit einer bestimmten Zahl von Änderungen zu rechnen. Diese rechnet man hoch und kommt zu bestimmten, absoluten Jahreszahlen.

    Gegen die Annahme einer derartigen Frequenz richtet sich die Kritik: Denn Sprachänderungen richten sich nicht nach einer Uhr. Vielmehr gibt es in der Geschichte einer Sprache oft kurze Perioden, in denen sich Änderungen nur so überschlagen (man denke nur an die Besetzung Galliens durch die Römer ab dem Jahr 40 v.Chr. und an die Eroberung Englands durch die Normannen ab dem Jahr 1066 n.Chr.). Und es gibt lange Perioden, während denen sich fast nichts ändert. Eine regelmäßige Abfolge dieser Perioden ist nicht zu erkennen. Die unterstellte Frequenz ist letztlich willkürlich. Man kann auch beliebige andere Frequenzen nehmen.

    So kommen Gray und Atkinson zu viel zu hohen Werten. – Hierzu ein Beispiel:

    Gray und Atkinson berechnen, daß der irische Zweig des Keltischen sich vom britannischen Zweig (d.h. Walisisch, Kornisch, Bretonisch) um etwa 900 vor Christus getrennt habe. Dies kann aus der Sicht von Sprachwissenschaftlern nicht stimmen. Denn das Lautsystem und die ganze Grammatik des Irischen und des Britannischen waren bis ins 1. Jhdt. n.Chr . identisch. Divergierende Tendenzen haben sich erst später entwickelt. Der einzige erkennbare Unterschied war zum damaligen Zeitpunkt, daß das Britannische ein „p“ hatte, wo das Irische noch ein „k w “ verwandte. Das Wort „Pferd“ lautete britannisch zum Beispiel „*epos“, irisch hingegen „*ek w os“. Die Trennung von Irisch und Britannisch ist von Gray und Atkinson also um 1.000 Jahre zu früh angesetzt. Falls die Fehlerquote bei den anderen Verzweigungen, die zwischen Keltisch und Urindogermanisch liegen, etwa ebenso groß wäre, bekäme man ein Datum für den ersten Auseinanderfall des Indogermanischen von etwa 4.000 vor Christus..

    So faszinierend also die Vorstellung ist, den berühmten Sprachenbaum Schleichers, der die Abspaltungen der einzelnen Sprachen und Sprachfamilien von Indoeuropäischen nur relativ darstellt, nur auch mit konkreten, absoluten Zahlen zu hinterlegen: Die Tabellen von Gray / Atkinson bedürfen noch der Überarbeitung.

    Immerhin haben sie eine lebhafte Diskussion in der Fachwelt ausgelöst und wichtige Impulse für die Chronologie geliefert.