Zyklen

Man unterteilt die Sprachen, wie dargelegt, in typologischer Hinsicht in 3 bzw. 4 Gruppen:

Sprachbau Charakteristika typische Beispiele
analytisch (= isolierend) Alle Wörter sind unveränderlich, Endungen gibt es nicht grammatikalische Beziehungen werden durch die Wortstellung angezeigt. chinesisch, vietnamesisch
agglutierend Die Wörter setzen sich aus langen Abfolgen von Einheiten zusammen, wobei jede Einheit (Morphem) nur eine bestimmte Bedeutung hat. finnisch, türkisch, japanisch
flektierend (= synthetisch, fusionierend) Grammatikalische Beziehungen werden durch Veränderungen der inneren Struktur von Wörtern vermittelt (meist durch Flexionsendungen), die mehrere grammatikalische Bedeutungen auf einmal ausdrücken lateinisch, griechisch, arabisch

Daß die Zuordnung einer Sprache gemäß dieser Klassifikation nicht unveränderlich ist, wurde am Beispiel des Englischen gezeigt.

So hat sich das Englische von dem Musterbeispiel einer flektierenden Sprache zu einer isolierenden Sprache ohne jede Flexion gewandelt, die heute - nach einer Entwicklung von nur 1.000 Jahren - dem Chinesischen weit näher steht als den germanischen Sprachen.

Es finden somit auf der Welt ständig Übergänge von einem Sprachtyp zu einem anderen statt. Dabei scheint diese Entwicklung nach Ansicht vieler Sprachwissenschaftler zyklisch zu verlaufen:

flektierend (indogermanisch) => isolierend (derzeit bei vielen europ. Sprachen, vor allem Englisch) => agglutinierend => flektierend

Diese Entwicklung können wir derzeit in vielen westeuropäischen Sprachen sehr schön beobachten, die sich vom Lateinischen (als typischem Beispiel für einen flektierenden Sprachbau) zum isolierenden Typ (z.B. Englisch, u.v.m.) entwickelt haben und die weitere Entwicklung in Richtung agglutierenden Sprachbau zu gehen scheint.

Vgl. hierzu das obige Beispiel aus dem Englischen, wo aus "he is" (im Prinzip isolierend, als Ausnahme sogleich) bereits wieder "he's" (agglutinierend) => *hes (flektierend) wird.

Hierzu 2 Erläuterungen:
a. Das vorgestellte Sternchen * (Asterisk) bedeutet, daß es sich um eine erschlossene, nicht schriftlich belegte Form handelt.

b. Um eine Ausnahme handelt es sich insoweit, als besonders häufig benutzte Formen (z.B. die Konjugation des Verbs "sein") abgeschliffen und damit unregelmäßig werden.
Sie verhalten sich dann wie eine einzelne Vokabel und werden als solche im Wortschatz des Gehirns verankert, so daß sie nicht mehr (wie “normale” Verben) an dem skizzierten Wandel (in Richtung Vereinfachung, Regelmäßigkeit, usw.) teilnehmen.

Dass die Entwicklung aber noch weitergeht, und zwar vom agglutierenden grundsätzlich hin zum flektierenden Sprachbau, dürfte ohne weiteres einsichtig sein.

Denn diese Typen unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß die grammatikalischen Bedeutungen im einen Fall (agglutierender Typ) durch eine Reihe von Suffixen ausgedrückt werden, die in einer langen Reihe an den Wortstamm angehängt werden, während die grammatikalischen Bedeutungen im anderen Fall (flektierender Typ) nur noch durch 1 - 2 nachgestellte Silben dargestellt werden.

Hier drängt sich die Annahme auf, daß es sich bei diesen Endungen um die Reste der vorher vorhandenen Suffixe handelt, die sich im Laufe der Zeit abgeschliffen und zusammengezogen haben, wie man es auch heute bei einer Vielzahl von Wörtern, Suffixen und Präfixen feststellen kann
(Bsp.: herbei-rufen => her-rufen, herunter-kommen => runter-kommen).

Es erscheint mehr als naheliegend, daß die Sprecher agglutierender Sprachen die z.T. endlosen Endungen (mit teilweise 5 - 10 Suffixen) im Laufe der Zeit zusammenziehen, so daß eine Nachsilbe nicht mehr nur eine einzige grammatikalische Bedeutung ausdrücken kann, sondern mehrere Funktionen auf einmal übernehmen kann.

Wie wunderbar eindeutig und präzise dies funktioniert, zeigt sich am Beispiel des Lateinischen, wo z.B. die Nachsilbe -s in ama-s gleichzeitig 5 grammatikalische Bedeutungen ausdrücken kann (2. Person, Singular, Präsens, Indikativ, Aktiv).

Beim agglutierenden Typ (z.B. Ungarisch, Finnisch, Türkisch, Japanisch) wären hierfür 5 Präfixe (= nachgestellte Silben) erforderlich.

Da mit der geschilderten Verkürzung der Suffixe (beim agglutierenden Sprachtyp) zu einer einzigen Nachsilbe (beim flektierenden Typ) gleichzeitig auch die wichtigen, bedeutungstragenden Endsilben “näher an den Wortstamm heranrücken”, liegt es auch nahe, daß der ursprünglich unveränderliche Wortstamm “in Mitleidenschaft gezogen” wird und z.B. durch Assimilation, usw. Veränderungen erfährt, die es vorher (in der agglutierenden Phase) nicht gegeben hatte.

Diese Auffassung wird auch durch den Umstand gestützt, daß es neben den 3 oben genannten Sprachtypen auch noch einen 4. Typ gibt (Polysynthetischer Sprachbau ), der von einigen Wissenschaftlern als eigener Sprachtyp angesehen wird. Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine Definitionsfrage.

Wichtiger ist, daß dieser Sprachtyp Merkmale sowohl des agglutierenden als auch des flektierenden Sprachbaus aufweist, und damit ein Durchgangsstadium zwischen beiden Typen darstellen könnte, also (zeitlich) in der Mitte der Entwicklung vom agglutierenden zum flektierenden Sprachbau stehen könnte.