Vulgärlatein: Aussprache

Die Erkenntnis, daß die romanischen Sprachen auf das gesprochene Lateinisch (das sog. Vulgärlatein) zurückgehen, hilft für die Erforschung der romanischen Sprachen und ihrer Entwicklung letztlich nur dann weiter, wenn man weiß, wie das damals gesprochene Latein tatsächlich ausgesprochen wurde.

Dies ist in der Sprachforschung immer der entscheidende Punkt. So kann man bspw. eine unbekannte Sprache / Schrift nur dann entziffern, wenn man weiß, wie die Lautung (d.h. Aussprache) der Sprache / Schrift war.

So gelang Francois Champoillon letztlich nur deshalb die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen, an der sich ganze Forschergenerationen vergeblich versucht hatten, weil er profunde Kenntnisse der koptischen, der arabischen und mehrerer weiterer in hieroglyphischer Zeit verbreiteter Sprachen besaß und deshalb in der Lage war, die Hieroglyphen nach ihrem Lautwert zu bestimmen.

Ähnlich war es bei der Entzifferung der altpersischen und der mesopotamischen Keilschriften sowie der hethitischen Hieroglyphen. - Immer führt die Entzifferung einer unbekannten Sprache über die Bestimmung des Lautwertes.

Und hier liegt das Problem: Denn bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Sprache ausschließlich schriftlich überliefert. Aber wie sie ausgesprochen wird (bzw. wurde), sieht man der Schrift nicht an. Weder der lateinischen Schrift noch den ägyptischen Hieroglyphen (diesen erst recht nicht). Bei letzteren bleibt daher hinsichtlich der Aussprache (trotz aller Fortschritte beim Wortschatz und der Grammatik) vieles im Dunkel.

Bei der Aussprache der lateinischen gesprochenen Sprache kommt noch die weitere Schwierigkeit hinzu, daß es sich um die gesprochene - und gerade nicht um die reichlich überlieferte schriftliche - Varietät der lateinischen Sprache handelt. Also die Varietät, die per definitionem gerade nicht schriftlich überliefert worden ist. Und eine andere als schriftliche Überlieferung gibt es nicht (bzw. erst seit der Entwicklung elektromechanischer Tonträger Anfang des 20. Jahrhunderts).

Aber ganz so aussichtslos war die Suche nach Quellen für die gesprochene Sprache glücklicherweise doch nicht. Denn paradoxerweise konnte die Sprachwissenschaft in der schriftlichen Hinterlassenschaft eindeutige Hinweise auf die Beschaffenheit der gesprochenen Sprache vergangener Zeiten finden:

Wichtigste Quellen für die Kenntnis des gesprochenen Lateins:

  1. Literarische Quellen (z.B. volkstümliche Komödien)
  2. Nichtliterarische Quellen (z.B. Grabsteine)
  3. Äußerungen von Grammatikern (z.B. Lehrbücher)
  4. Erschließung aus den romanischen Sprachen (insbes. Sprachenvergleich)
  5. Einzelne Quellen (z.B. Auszug aus einem privaten Brief eines einfachen Soldaten)